Georg Wickram ist einer der produktivsten und vielseitigsten deutschsprachigen Autoren des 16. Jahrhunderts. Er hatte wohl nur ansatzweise Lateinkenntnisse, war aber ein sehr guter Kenner der gesamten volkssprachigen Dichtungstradition und in seiner Heimatstadt Colmar als Gründer der Meistersingergesellschaft kulturell aktiv, während er seinen Lebensunterhalt zunächst Kunst- und Schildermaler vediente, bevor er ein kleines Schreiberamt im benachbarten Burkheim erhielt. Seine Romane hat er - erstmalig in der deutschen Literaturgeschichte - nicht auf Grundlage konkreter Vorlagen verfasst, sondern konzipierte eigene Geschichten unter Verabreitung des ihm zur Verfügung stehenden Stoff- und Motivinventars mittelhochdeutscher und frühneuhochdeutscher Dichtung. Dabei macht er (ebenfalls zum ersten Mal...) in unfangreicher Weise nichtadlige Menschen zu Protagonist:innen seiner Texte.

Die Forschung zu Wickram ist nicht annähernd so umfangreich und intensiv, wie es seiner literaturgeschichtlichen Bedeutung angemessen wäre und dreht sich meist um die immer gleichen Themen und Fragen. In diesem Seminar (dessen zweiter Teil im Sommersemester folgen wird), wollen wir uns Wickrams Texten aus einer bisher nicht vertretenen Perspektive nähern und sie dem unterziehen, was im englischsprachigen Raum "ecocritical reading" genannt wird. Eine Übersetzung ins Deutsche ist etwas schwierig und klingt auch ungelenk, aber am ehesten passt wohl (wie im Seminartitel zu lesen) der Begriff der ökokritischen Lektüren. Es geht dabei um einen Zugang, bei dem die typischen literaturwissenschaftlichen und narratologischen Analysewerkzeuge im Dienste einer Perspektive angewandt werden, aus der die Natur(darstellung) in den Texten, ihre kulturellen Zuschriebungen und ihre Reflexion von und auf zeitgenössische Vorstellungen vom Umgang mit Natur in den Mittelpunkt des Interesses rücken. Dabei steht im Hintergund auch immer die Frage nach unserem gegenwärtigen Umgang mit Natur im Zeitalter des menschengemachten Klimawandels. Um diese doch sehr globale Frage weiter zuzuspitzen, wollen wir uns dieses Semester auf Pflanzen konzentrieren, eine Perspektive die in der Forschung insgesamt bisher deutlich weniger Raum bekommt, als die sogenannten 'Human Animal Studies', denen ja auch in Kassel ein Forshcungsschwerpunkt galt und gilt. Dies wird sicher zunächst die Frage provozieren, ob es da überhaupt Relevantes zu beobachten gibt, insbesondere, da Pflanzen doch (anders als Tiere) gar nicht selbständig handeln. Genau dies aber werden wir von Beginn an infrage stellen, indem wir das Konzept der 'Agency' einführen und dann überhaupt eine Bestandsaufnahme machen, welche Pfalnzen bei Wickram vorkommen und in welcher Weise sie in die Erzählungen Eingang finden usw.

Um hier von Anfang an gemeinsam produktiv arbeiten zu können, ist es unumgänglich, dass die Teilnehmer:innen schon vor der ersten Seminarsitzung mindestens einen der Romane gelesen haben. Eine entsprechende Verteilung der zu lesenden Texte wird nach dem Ende der Einwahl per Moodle-Kurs durchgeführt. Die Seminarteilnehmer:innen werden dazu per E-Mail angeschrieben.

Insofern ist dies eine durchaus experimentelles Seminar, das seitens aller Teilnehmenden die Bereitschaft zu intensiver Lektüre der Primärtexte und ungewöhnlicher Forschungsliteratur erfordert. Wenn Sie sich bereits einmal ansehen möchten, was unter der Bezeichungn "literary and cultural plant studies" so gemacht wird, dann sehen Sie sich doch einmal hier um und surfen von dort aus weiter durchs Netz.

 

Dieses ist zwar die Fortführung des Seminars aus dem Wintersemester, es sind aber alle Interessierten eingeladen, auch ohne diesen Vorlauf teilzunehmen. Themen und Texte gibt es zur Genüge und Sie werden schnell auf den aktuellen Arbeitsstand gebracht und können dann je nach Ihren Interessen noch jede Menge neue Themenbereiche einbringen und/oder bearbeiten.