Rund 40% des in Deutschland freigesetzten CO₂ werden durch die Bauwirtschaft verursacht. Die bereits in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts erkannte und heute als krisenhaft erfahrene Situation des beschleunigten Klimawandels verlangt ein Handeln und birgt Chancen: Planer:innen sehen angesichts aktueller Herausforderungen verstärkt den Bedarf, tradierte Typologien in Bezug auf Materialien und Konstruktionsformen weiterzuentwickeln oder neu zu denken. Im Schlagwort ‚Typogenese,‘ einem aus der Evolutionsbiologie entlehnten Begriff, der die sprunghafte Entstehung neuer Ausprägungen bezeichnet, manifestiert sich angesichts des hohen Transformationsdrucks der Gegenwart eine Hoffnung, die analog zum Typen-Konzept der Moderne Vertrauen in das Potenzial einer gleichsam plötzlichen Formbildung setzt: Das durchaus auch kritisch zu prüfende entwerferische Selbstbild, aus einer absolut gesetzten Gegenwart heraus die Realität der Zukunft zu gestalten, trifft heute auf das Anerkennen der Verpflichtung, den konkreten baulichen Bestand als Ressource zu nutzen und das Nachleben des Produkts durch zukünftige Anpassungsmaßnahmen oder Rückbaumöglichkeiten vorauszudenken.

Christ & Gantenbein argumentierten in Bezug auf ihr Multifunctional Workspace Building für Roche, dass die Materialität in Stahl, Glas und Beton eine bestimmte Bauform erlaube und das Gebäude somit aufgrund seiner Typologie nachhaltig sei. Dies verdeutlicht, dass der Begriff der Nachhaltigkeit je noch Kontext und Perspektive unterschiedliches meint. Die verweist jedoch auch auf konzeptuelle und gestalterische Fragen und unterstreicht, dass die Komplexität der Frage von Nachhaltigkeit nicht allein durch die Wahl vordergrründig nachhaltiger Materialien beantwortet werden kann, sondern projektabhängig und ortsspezifisch erörtert werden muss, wobei der typologische Aspekt eine bedeutende Rolle spielt. Denn mit dem Schlagwort der Nachhaltigkeit werden sowohl zeitlich, als auch ökologisch sowie ethisch konnotierte Aspekte adressiert, die nicht unabhängig von der erwarteten Lebensdauer und Funktion sowie dem Potenzial der Anpassung eines Gebäudes betrachtet werden können. Wenngleich es naheliegend ist, dass langfristig überdauernde Maßnahmen umweltfreundlicher sowie natürliche Ressourcen schonende Bauweisen fairer und sozial verantwortungsvoller sind, gilt es in der gemeinsamen Diskussion die damit jeweils verbundenen Vorstellungen und die Verantwortung der Architekt:innen zu erörtern.

Unter Typologie verstehen wir über die Wissenschaft von den Typen in Architektur und Städtebau gerade auch den von ökonomischen, sozialen und ökologischen Faktoren determinierten gestalterischen Prozess der Typenbildung selbst. So nutzen Entwerfer:innen beispielsweise Grundrisstypologien, die nichts anderes sind als Sammlungen voneinander abweichender und sich zugleich entsprechender Konfigurationen von Räumen; diese notwendigerweise abstrahierte Ordnungen werden jedoch nicht allein als Muster angewandt, sondern in Abhängigkeit zu materiellen, konstruktiven, funktionalen und programmatischen sowie lokalen Bedingungen wie dem Klima in übersetzter Form und somit als Modelle angewandt. Wenngleich der Begriff der Typologie bereits in den 60er- und 70er-Jahren des letzten Jahrhunderts als dialektisches und kritisches Instrument neu entdeckt wurde und in diesem Zuge u.a. das Interesse an tradierten Bauformen geweckt wurde, war dessen Kraft für eine kritische entwurfliche wie theoretische Praxis laut André Bideau spätestens zur Jahrhundertwende aufgebracht. In Bezug auf die konkrete Nutzung des Bestands gewinnt ein typologischer Blick auf die Wirklichkeit der gebauten Umwelt heute mehrfach Bedeutung: erstens auf der Ebene konstruktiver und technischer Elemente im zirkulären Bauen, zweitens auf der Ebene der Umnutzung und des Umbaus von Gebäuden im Re-Development und drittens auf der Ebene architektonischer Erweiterungen und städtebaulicher Ergänzungen in der Nachverdichtung.

Das Seminar betrachtet vor dem Hintergrund aktueller Nachhaltigkeitsdiskurse den in der Architekturgeschichte unterschiedlich verwendeten Begriff der Typologie und entwickelt experimentell eine Typologie des Weiterbauens als ein Überblick auf Formen von Nachhaltigkeit. Das Seminar ist inhaltliche wie methodisch an der Schnittstelle zwischen entwurfsbezogener Theorie und reflexiver Praxis situiert und behandelt typologisches Forschen und Entwerfen. Strukturell teilt es sich in zwei Elemente; erstens wird in der Kompaktwoche zum einen die wandlungsreiche Geschichte des Typologie-Begriffs in Bezug auf veränderte technische und kulturelle Bedingungen reflektiert und zum anderen das Spektrum verschiedener Vorstellung von Nachhaltigkeit erörtert; zweitens werden im Eigenstudium historische und zeitgenössische Positionen recherchiert und Strategien für einen entwurflich produktiven Umgang mit dem Konzept des Typus und der Typologie untersucht, um die abschließenden Treffen vorzubereiten: am Ende der Vorlesungszeit wird gemeinsam eine typologische Ordnung von ausgewählten Projekten entwickelt. Wohingegen typologisches Entwerfen auf einer synthetisierenden Praxis basiert, die aus der Realität der gebauten Umwelt abstrahierte Mustern projektspezifisch neu anwendet, zeichnet sich typologische Forschung sich durch ein analytisches Bewerten und Ordnen aus, das in disparaten Erscheinungen strukturelle Ähnlichkeiten erkennt und diese in der Entwurfs- und Baupraxis gefundenen Muster durch präzise Ordnungsformen herausarbeitet, welche wiederum für Entwerfer:innen instrumentell werden können. Für die angestrebte Typologie des Weiterbauens wird die Fokussierung auf die den Wohnungsbau und Fragen des Re-Developments vorgeschlagen, was einen verantwortungsvollen Umgang mit dem Bestand und der hierin gebundenen grauen Energie inkludiert. Student:innen, die im Zusammenhang mit den Fragestellungen andere Schwerpunkte setzen wollen wie beispielsweise die Adaption von Typologien anderer Klimazonen oder materiell und konstruktiv bedingte Morphologien bekannter Bauformen, sind zum „bring your own (theory) project“ eingeladen.