Die Vorlesung gibt einen sprach- und literaturgeschichtlichen Überblick von den Anfängen volkssprachiger Schriftlichkeit bis zum Beginn des 16. Jahrhundert. Es werden die internen und externen Bedingungen, Entwicklungen und Zäsuren zur Sprache kommen, welche eine Literatur bestimmen, die allein drei Sprachstufen des Deutschen umfasst. Dabei gilt es zu zeigen, wie die mündliche Überlieferung allmählich ihren schriftlichen Niederschlag findet und welche Hürden bei der Entwicklung von der mündlichen zur Schriftsprache überwunden werden müssen. Literaturtheoretische Vorgaben werden erläutert und die vielfältigen Formen literarischer Gattungen anhand ausgewählter Beispiele vorgestellt. Ziel ist es, den Studierenden einen Einblick in die heute weitgehend unbekannte Dichtung einer Zeit zu ermöglichen, die seit der Renaissance unter dem unpräzisen und sehr undifferenzierten Begriff „Mittelalter” firmiert, und eine Vorstellung zu vermitteln von der Bedeutung, die diese Literatur für die deutsche Literaturgeschichte hat.




Wenn wir heute über die sogenannte 'Klimakrise' reden, dann liegt den Argumentationen häufig implizit oder explizit die Vorstellung einer Vernichtung nicht nur der Lebensgrundlagen des Menschen, sondern auch die Vernichtung der Erde insgesamt zugrunde. Unabhängig davon, dass es sich dabei nicht um irreale Ängste einzelner Menschen handelt, sondern um eine ganz konkrete Bedrohung, rekurriert eine solche Argumentation zumindest in den christlich geprägten Kulturen Europas bewusst oder unbewusst auch auf sehr alte christliche Vorstellungen vom Untergang der Welt. Diese Weltuntergangsimaginationen gehen auf biblische Texte und auf deren Auslegung im Frühchristentum zurück, beziehen sich tatsächlich auf die Welt im Ganzen und sind dann mit der Vorstellung des Endgerichts verbunden. Letzteres meint, dass Gott am Tag des Jüngsten Gerichts die Welt wird, untergehen lassen und da auch über alle Menschen, die zu diesem Zeitpunkt noch leben und jemals gelebt haben richten wird, sie also in Verdammte und Erlöste einteilt. Wesentlich an dieser Erzählung ist schließlich noch, dass sie linear und zielgerichtet ist, es also nach dem Weltgericht nicht, wie in anderen Glaubens- und Weltdeutungssystemen, eine zirkuläre Wiederkehr gibt oder einen Neuanfang oder Ähnliches. Aus der Perspektive eines gläubigen Christen ist diese Zukunftsperspektive auch nicht ausschließlich mit Ängsten besetzt, sondern ihr kann auch ausgesprochen positiv begegnet werden, ja, der Weltuntergang kann geradezu herbeigewünscht werden, sofern der/die Einzelne sich relativ sicher ist, ein gottgefälliges Leben zu leben und dementsprechend die Wahrscheinlichkeit, am Gerichtstag auf der Seite der Erlösten zu sein.

Über diese Vorstellungen gibt es im Mittelalter auch entsprechende Erzählungen, denen wir uns in diesem Seminar widmen wollen. Die sind zum einen die Texte von Ava, zum anderen die sogenannte „Weltgerichtsspiele”. Dabei fragen wir nach der erzählerischen (und teilweise auch bildlichen) Darstellung des Weltuntergangs, gleichen dies mit den gegenwärtigen Erzählungen und Darstellungen des Klimawandels und seiner Folgen ab, überlegen, welche argumentativen und narrativen Stilmittel eingesetzt werden und zu welchem Zweck und in welcher Form solche Erzählungen vom Weltuntergang bis heute fortleben. Mit Blick auf unsere gegenwärtige Situation des Klimawandels wird damit ein ganz wesentlicher Punkt der aktuellen Debatte ins Bewusstsein gehoben, der meistens nicht benannt wird, obwohl die gesamte Argumentation implizit darauf aufsetzt: Welchen Grund gibt es eigentlich, dem Klimawandel und der daraus folgenden Zerstörung der Erde entgegenzuwirken?


Georg Wickram ist einer der produktivsten und vielseitigsten deutschsprachigen Autoren des 16. Jahrhunderts. Er hatte wohl nur ansatzweise Lateinkenntnisse, war aber ein sehr guter Kenner der gesamten volkssprachigen Dichtungstradition und in seiner Heimatstadt Colmar als Gründer der Meistersingergesellschaft kulturell aktiv, während er seinen Lebensunterhalt zunächst Kunst- und Schildermaler vediente, bevor er ein kleines Schreiberamt im benachbarten Burkheim erhielt. Seine Romane hat er - erstmalig in der deutschen Literaturgeschichte - nicht auf Grundlage konkreter Vorlagen verfasst, sondern konzipierte eigene Geschichten unter Verabreitung des ihm zur Verfügung stehenden Stoff- und Motivinventars mittelhochdeutscher und frühneuhochdeutscher Dichtung. Dabei macht er (ebenfalls zum ersten Mal...) in unfangreicher Weise nichtadlige Menschen zu Protagonist:innen seiner Texte.

Die Forschung zu Wickram ist nicht annähernd so umfangreich und intensiv, wie es seiner literaturgeschichtlichen Bedeutung angemessen wäre und dreht sich meist um die immer gleichen Themen und Fragen. In diesem Seminar (dessen zweiter Teil im Sommersemester folgen wird), wollen wir uns Wickrams Texten aus einer bisher nicht vertretenen Perspektive nähern und sie dem unterziehen, was im englischsprachigen Raum "ecocritical reading" genannt wird. Eine Übersetzung ins Deutsche ist etwas schwierig und klingt auch ungelenk, aber am ehesten passt wohl (wie im Seminartitel zu lesen) der Begriff der ökokritischen Lektüren. Es geht dabei um einen Zugang, bei dem die typischen literaturwissenschaftlichen und narratologischen Analysewerkzeuge im Dienste einer Perspektive angewandt werden, aus der die Natur(darstellung) in den Texten, ihre kulturellen Zuschriebungen und ihre Reflexion von und auf zeitgenössische Vorstellungen vom Umgang mit Natur in den Mittelpunkt des Interesses rücken. Dabei steht im Hintergund auch immer die Frage nach unserem gegenwärtigen Umgang mit Natur im Zeitalter des menschengemachten Klimawandels. Um diese doch sehr globale Frage weiter zuzuspitzen, wollen wir uns dieses Semester auf Pflanzen konzentrieren, eine Perspektive die in der Forschung insgesamt bisher deutlich weniger Raum bekommt, als die sogenannten 'Human Animal Studies', denen ja auch in Kassel ein Forshcungsschwerpunkt galt und gilt. Dies wird sicher zunächst die Frage provozieren, ob es da überhaupt Relevantes zu beobachten gibt, insbesondere, da Pflanzen doch (anders als Tiere) gar nicht selbständig handeln. Genau dies aber werden wir von Beginn an infrage stellen, indem wir das Konzept der 'Agency' einführen und dann überhaupt eine Bestandsaufnahme machen, welche Pfalnzen bei Wickram vorkommen und in welcher Weise sie in die Erzählungen Eingang finden usw.

Um hier von Anfang an gemeinsam produktiv arbeiten zu können, ist es unumgänglich, dass die Teilnehmer:innen schon vor der ersten Seminarsitzung mindestens einen der Romane gelesen haben. Eine entsprechende Verteilung der zu lesenden Texte wird nach dem Ende der Einwahl per Moodle-Kurs durchgeführt. Die Seminarteilnehmer:innen werden dazu per E-Mail angeschrieben.

Insofern ist dies eine durchaus experimentelles Seminar, das seitens aller Teilnehmenden die Bereitschaft zu intensiver Lektüre der Primärtexte und ungewöhnlicher Forschungsliteratur erfordert. Wenn Sie sich bereits einmal ansehen möchten, was unter der Bezeichungn "literary and cultural plant studies" so gemacht wird, dann sehen Sie sich doch einmal hier um und surfen von dort aus weiter durchs Netz.


Dies ist das biesekische Tutorium für Herrn Mecklenburgs Vorlesung
"Einführung in die ältere deutsche Literatur und Sprache 1 (WiSe 22/23)".

Ist drin, was drauf steht: moodle-Kurs zum Tutorium begleitend zu Prof. Dr. Mecklenburgs VL

Di, 12-14 Uhr
Georg-Forster-Str. 4 R1004
Tutorin: Vivian Donath

Ich freu mich auf euch!