Im Laufe des 20. Jahrhunderts lässt sich eine zunehmende Verbreitung von therapeutischem Wissen, therapeutischen Praktiken und therapeutischen Diskursen beobachten. Schon in den 1920er Jahren verbreitet sich die Psychoanalyse nicht nur in medizinischen Fachkreisen, sondern auch in der Populärkultur und Alltagswelt. Die Kultur des Therapeutischen zeigt sich in den folgenden Jahrzehnten als einflussreich in der Arbeitswelt, in der Öffentlichkeit, in der Privatsphäre oder in Vorstellungen von Intimität, Sexualität und Emotionalität. Das Seminar setzt sich mit diesem Prozess der Therapeutisierung anhand von theoretischen Positionen und konkreten Anwendungsfällen auseinander. In der Einführungssitzung am 28. April (online) werde ich zunächst das Thema näher vorstellen und organisatorische Fragen klären. In einem ersten Block am Freitag/Samstag, den 16. und 17. Juni beschäftigen wir uns dann mit eher theoretischen Texten, die die Entstehung und zentralen Merkmale der Therapiekultur des 20. Jahrhunderts verständlich machen wollen. Dazu gehören Texte von Eva Illouz, Frank Furedi, Christopher Lasch, Alain Ehrenberg und Katie Wright. In einem zweiten Block am 23./24. Juni wenden wir uns dann konkreten Beispielen zu, um die historische Entwicklung besser zu verstehen, und die verschiedenen theoretischen Positionen mit diesen ins Gespräch zu bringen. Es wird um die Krise der Familie nach 1945, den Psychoboom der 1970er Jahre, die Herausforderung der evidenzbasierten Medizin, das aufkommende digitale Zeitalter, die Pathologisierung von Schüchternheit sowie mögliche neokoloniale Tendenzen der Therapeutisierung im Rahmen der Zuschreibung von Posttraumatischen Belastungsstörungen gehen. Ziel des Seminars ist es, die historische Entstehung, gesellschaftstheoretische Bedeutung und empirische Manifestation des Prozesses der Therapeutisierung näher zu verstehen.