Friedrich Nietzsches 1887 veröffentlichte und im Untertitel als „Streitschrift“ bezeichnete „Genealogie der Moral“ ist im strengen Sinne kein moralphilosophischer Text, da er sich nicht primär wie die klassischen moralphilosophischen Positionen mit der Begründung und Anfechtbarkeit moralischer Normen beschäftigt. Man kann diesen Text eher als einen moralpsychologischen und moralkritischen Text verstehen, in dem Nietzsche sich primär mit der Wirkung moralischer Normen und Konventionen auf die menschliche Psyche und Kultur bzw. auf das menschliche Leben generell beschäftigt. Seine Grundfrage lautet entsprechend: „Unter welchen Bedingungen erfand sich der Mensch jene Werthurtheile gut und böse? Und welchen Werth haben sie selbst?“ Oder anders formuliert: „Welchen Werth hat die Moral?“ Was nützt sie dem menschlichen Leben? Nietzsches Urteil fällt zwar ambivalent, aber doch deutlich negativ aus. Die Moral hat sich laut Nietzsche zu einem Herrschaftssystem entwickelt, das den Sinn hat, denjenigen, die aufgrund ihrer physischen und psychischen Anlagen zu schwach sind, um gesellschaftlich zu bestehen, zur Macht zu verhelfen. Weil das Leben als solches aber danach drängt, zu wachsen und zu herrschen, wendet sich die Moral – Nietzsche zufolge – gegen das menschliche Leben, oder – wie er sagt – sie verkleinert es, sie hindert es an seiner vollumfänglichen Entfaltung. Die Moral wird in diesem Sinne als eine disziplinarische und gesellschaftlich vor allem durch das Christentum institutionalisierte Kraft verstanden, die die Menschen dazu zwingt, sich ihr zu unterwerfen. Sie ist in dieser Hinsicht also als etwas dem Leben Fremdes und Feindliches zu verstehen. Aber dies ist nur die eine Seite von Nietzsches Moraltheorie, denn andererseits begreift er die Moral als produktiv. Indem sie das menschliche Leben unterwirft, bringt sie selbst eine bestimmte Art von Leben, nämlich moralisches Leben, hervor. Das moralische Leben versucht nun seinerseits zu wachsen und seine Macht zu vergrößern. In dieser Hinsicht ist die Moral dann nicht lebensfeindlich, sondern schöpferisch, Leben produzierend. Das von der Moral produzierte Leben ist aber ein verkleinertes oder sich selbst verkleinerndes.

Im Seminar wollen wir uns mit diesem Spannungsverhältnis der einschränkenden und produktiven Funktion der Moral beschäftigen. Die normativen Konsequenzen von Nietzsches Text sind ihrerseits nicht unproblematisch und sollen ebenfalls eingehend diskutiert werden. Da Seminar ist vor allem für Anfänger:innen geeignet, Vorkenntnisse von Nietzsches Philosophie sind daher nicht nötig. Der Text wird in der bei de Gruyter erschienenen Kritischen Studienausgabe digital zur Verfügung gestellt.