Ist die Art und Weise der Lebensführung Privatsache? Sollten wir uns in Fragen der Lebensführung, des Lebenswandels oder der Lebensform von Individuen oder Gruppen nicht einmischen? Kommt es darauf an, gesellschaftliche Bedingungen zu schaffen, in denen die Freiheiten, zu tun und zu lassen, was mensch will, maximiert sind? Oder rückt mit den Krisen des Anthropozän eine Situation näher, in der über die rechtliche Regulierung des Zusammenlebens hinaus auch Einmischung in den Lebens- und Konsumstil der anderen gefragt ist, in den Umgang mit Reichtum, freier Zeit, etwa das Ausmaß der Nutzung des Autos oder die Häufigkeit von Fernreisen per Flugzeug betreffend? Das Seminar wird solchen Fragen nachgehen. Es thematisiert Bereiche, in denen, und Bedingungen, unter denen eine Politik der Lebensführung stattfindet, möglich ist oder nötig wird. Und es fragt auch nach den Grenzen einer solchen Politik in der modernen Gesellschaft.

Der Ausdruck "Politik der Lebensführung" oder im englischen Original "Life Politics" stammt vom britischen Soziologen Anthony Giddens, der damit einen Gegenpol zum - aus seiner Sicht dominanten - Paradigma linker Sozialpolitik einführen wollte, welches er als "Emancipatory Politics" bezeichnet. Während letzteres sich auf eine negative Ermöglichung von erweiterten Freiheiten des Handelns und Lebens beschränke, sollte mit ersterem auf das Problem hingewiesen werden, dass es zur Nutzung entsprechender Freiheiten auch einer positiven Befähigung bedürfe. Wir werden uns mit Giddens' theoretischen Hintergrundüberlegungen zu diesen Fragen ebenso auseinandersetzen wie mit seinen umstrittenen sozialpolitischen Schlussfolgerungen daraus. Darüber hinaus werden wir aber auch weitere Beiträge kennenlernen, die an das Konzept der "Politik der Lebensführung" anschließen (etwa von Zygmunt Bauman oder Ronald Hitzler). Aus sozialphilosophischer Perspektive hat etwa Rahel Jaeggi die Frage verfolgt, inwiefern "Lebensformen" entgegen aller liberalen Enthaltsamkeitspostulate zum Gegenstand von Kritik gemacht werden dürfen und sollten.

Darüber hinaus lassen sich auch aktuelle Diskurse und Protestphänomene - etwa der Klimawandel-Bewegung - daraufhin analysieren, inwiefern Lebensformen und Lebensführung darin zum Gegenstand politischer Auseinandersetzung gemacht werden. Z.B. wird in bestimmten Bewegungsmilieus das Konzept der "Prefiguration" verfolgt, dem die Idee zugrunde liegt, dass eine nachhaltige Transformation der Gesellschaft die Vorwegnahme zukünftiger, utopischer Lebensformen in der Gegenwart erfordert. Kurzum: Eine "Politik der Lebensführung" findet in unserer Gesellschaft in unterschiedlichen Arenen statt. Das Seminar soll dafür sensibilisieren und Konzepte bereitstellen, um diese Auseinandersetzungen zu analysieren, theoretisch einzuordnen und kritisch zu bewerten.

Kleine Literaturauswahl zur Einführung:

Giddens, Anthony (1997): Jenseits von Links und Rechts. Die Zukunft radikaler Demokratie. Frankfurt/Main: Suhrkamp.

Jaeggi, Rahel (2014): Kritik von Lebensformen. Berlin: Suhrkamp.

Lamla, Jörn (2003): Anthony Giddens. Frankfurt/Main; New York: Campus (=Reihe Campus Einführungen), insbes. ab S. 117.

Starodub, Alissa (2020): Lasst es glitzern, lasst es knallen! Politische Theorie und Praxis für die Utopie. Münster: edition assemblage.