Der russische Angriff auf die Ukraine im Februar 2022 hat den Krieg zurück in unsere westeuropäische Gesellschaft gebracht. Zwar gab es auch zuvor immer Kriege. Diese haben das Denken und Handeln hierzulande aber nicht in vergleichbarem Maße verunsichert und verändert. Die existenziellen Irritationen, die uns mit den Bildern zerstörter Städte und von unmenschlichen Gräueltaten, im Angesicht von geflüchteten und entwurzelten Menschen aus der Ukraine und anderen Krisenregionen, mit der atomaren Bedrohung und der für unsere Generationen neuen Präsenz des Militärischen erfassen, betreffen jedoch nicht nur uns selbst. Sie betreffen auch die Soziologie als Fach. Denn es fällt in solchen Momenten auf, dass sich die Soziologie in einer Vorstellung von Gesellschaft eingerichtet hat, in der Krieg ein nur wenig beachtetes Randphänomen ist.

Aus diesem Grunde widmet sich das Masterseminar dem Thema Krieg und Gesellschaft. Es soll auf der einen Seite gemeinsam erarbeitet werden, welche Beiträge soziologische Theorien zur Einordnung und Erklärung von Kriegsgeschehen in der modernen Gesellschaft beisteuern. Hierzu werden wir verschiedene Ansätze und Konzepte kennen lernen. Beispielsweise haben Norbert Elias oder Anthony Giddens die Rolle des Krieges im Prozess der Zivilisation bzw. Entstehung der Moderne hervorgehoben. Jean Baudrillard hat viel diskutierte Thesen zur Rolle der Medienberichterstattung über Kriege in der Gesellschaft beigesteuert. Und Harald Welzer ist der Frage nachgegangen, was heutige und zukünftige Kriege mit dem Klimawandel und ökologischen Gefährdungen zu tun haben. Dem werden wir jeweils nachgehen.

Zum anderen soll aber auch Literatur einbezogen werden, die sich mit den Defiziten der Soziologie in solchen Bereichen befassen, die mit Krieg und Gewalt zu tun haben. So gibt es seit einigen Jahrzehnten Anläufe, eine "Soziologie der Gewalt" zu entwickeln, um diese Defizite auszugleichen. Dennoch bleibt mit Hans Joas und Wolfgang Knöbl zu diagnostizieren, dass in der Geschichte der modernen soziologischen Theorie eine "Kriegsverdrängung" stattgefunden hat. Was bedeutet das für unser Fach in der heutigen Zeit? Welche Anstrengungen sind zu unternehmen, um die Soziologie auf die Höhe der Zeit zu bringen und der Rückkehr des Krieges sozial- und gesellschaftstheoretisch angemessen Rechnung zu tragen? In diesem Zusammenhang soll auch die Frage diskutiert werden, was eine solche Soziologie des Krieges zur Regulierung von Konflikten und zur Stabilisierung einer gesellschaftlichen Friedensordnung beisteuern könnte.

Kleine Literaturauswahl:

Bamme, Arno (2015): Die Normalität des Krieges. Ein blinder Fleck der Soziologie. In: Soziologie - Forum der deutschen Gesellschaft für Soziologie, 44. Jg., Heft 3, 2015, S. 277-291.

Giddens, Anthony (1985): The Nation-State and Violence. Cambridge: Polity.

Joas, Hans / Knöbl, Wolfgang (2016): Kriegsverdrängung. Ein Problem in der Geschichte der Sozialtheorie. Frankfurt/Main: Suhrkamp.

Kuchler, Barbara (2013): Kriege. Eine Gesellschaftstheorie gewaltsamer Konflikte. Frankfurt/Main; New York: Campus Verlag.

Trotha, Trutz von (1997) (Hg.): Soziologie der Gewalt. Sonderheft 37 der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie. Opladen: Westdeutscher Verlag.

Warburg, Jens (2008): Das Militär und seine Subjekte. Zur Soziologie des Krieges. Bielefeld: transcript.

Welzer, Harald (2010): Klimakriege. Wofür im 21. Jahrhundert getötet wird. 2. Aufl. Frankfurt/Main: Fischer.