Die berühmte Mappa mundi von Ebstorf – erst im 19. Jahrhundert wiederentdeckt und im II. Weltkrieg zerstört – war mit ihren zahlreichen Grafiken und Inschriften eine der größten mittelalterlichen Weltkarten. Mit dem prominent ins Kartenbild gesetzten irdischen Paradies, mit dem himmlischen Jerusalem im Kartenzentrum, und mit den apokalyptischen Stämmen Gog und Magog verortete die im späten 13. Jahrhundert geschaffene Karte die Heilsgeschichte vom Beginn der Schöpfung bis Wiederkehr Christi. Darüber hinaus verknüpfte sie geografisches, biblisches, historisches und naturkundliches Wissen, um den Betrachter zum Nachdenken über die eigene Sterblichkeit und die Allmächtigkeit Gottes anzuregen.

Diese Verflechtung von biblischer Zeit und geographischem Raum ist ein spezifisches Merkmal christlich-lateinischer Karten des Mittelalters, die im Mittelpunkt des Kurses stehen. Sie sind weder nur Instrument für Reisen durch Länder und Regionen, noch einfach Ausdruck des zeitgenössischen Wissens über die physische Erscheinung der Erde. Sie sind kulturelle Konstruktionen, die religiöse, politische und soziale Werte repräsentieren.

Ziel des Kurses ist es, die Strategien der Visualisierung und die Funktionen mittelalterlicher kartographischer Darstellungen zu analysieren. Anhand verschiedener Kartentypen vom frühen Mittelalter bis zum späten 15. Jahrhundert untersuchen wir die symbolische Bedeutung von Legenden und graphischen Elementen und gehen der großen Vielfalt von Weltbildern in ihrem zeitlichen Wandel nach. Anknüpfend an theoretische Überlegungen im Rahmen des ‚spatial turn‘ werden Räume nicht als gegebene und unveränderliche ‚Container‘ gesehen. Vielmehr sollen Räume als dynamisch verstanden werden, da sie der Mensch in seinem Bestreben nach Orientierung erst schafft und beständig abwandelt. Darüber hinaus werden die Wechselwirkungen zwischen Text und Bild in den Blick genommen, da die meisten Karten Bestandteil von Manuskripten sind und im Dialog mit kosmologischen Traktaten, mit Chroniken, Reiseberichten und vielen weiteren Texten stehen. Anhand von partiellen Vergleichen mit außereuropäischen Kartentraditionen werden Gemeinsamkeiten und Unterschiede aufgezeigt, um Fragen der Wissensvermittlung sowie der jeweiligen kulturellen Selbstverortung und Weltauffassung zu diskutieren.