Als „epistemologischer Bruch“ mit der vorherrschenden Sozialphilosophie sowie als „Pfingsterlebnis“ im intellektuellen Feld Frankreichs werden die berühmten Hegel-Seminare Alexandre Kojèves zwischen 1933 und 1939 in Paris häufig beschrieben. In den Werken der illustren Beisitzer*innen seiner Seminare sedimentierte sich der Kojèvesche Hegelianismus: Jacques Lacan, Georges Bataille, Jean-Paul Sartre, Simone de Beauvoir, Hannah Arendt, Maurice Merleau-Ponty oder Raymond Aaron waren alle auf die ein oder andere Art mit dem infiziert, was Alain Badiou den „hegelschen Virus“ nennt. Auch pflegte Kojève Umgang mit so unterschiedlichen Persönlichkeiten wie Carl Schmitt und Leo Strauss.

Nach dem Zweiten Weltkrieg zog Kojève es als hoher Beamter in der französischen Wirtschaftspolitik vor Soziologie zu „leben“, statt sie weiterhin zu „schreiben“, was ihn auch für die Intellektuellensoziologie interessant macht. Seiner unschätzbaren Bedeutung für die soziologische Theorie jedoch scheint man sich in der Soziologie erst allmählich bewusst zu werden. Dabei sind die zentralen Begriffe seiner transformierenden Hegel-Interpretation auch heute noch zentrale Kategorien in den Sozialwissenschaften: sei es der Begriff der Anerkennung, der Autorität oder der Herrschaft.

Im Seminar möchten wir also versuchen das Vergessen Kojèves vergessen zu machen, indem wir uns in die Lektüre seines nicht allzu üppigen Werks vertiefen und die zentralen Theoreme desselbigen herausarbeiten. Wir möchten aber auch seinem mittelbaren und unmittelbarem Einfluss auf genannte Autor*innen nachspüren, wozu wir uns auch solchen „Mediatoren“ von Ideen bedienen, wie Briefwechseln, Interviews, biographischen Berichten etc. Nicht nur soll sich hier beispielhaft zeigen, wie ein Autor seine soziologische Lehre auch existenziell „lebte“. Auch soll exemplarisch eine andere Möglichkeit oder Methode soziologiegeschichtlicher „Erzählung“ eröffnet werden. Schließlich soll nach der Aktualität eines Autors gefragt werden, der durch seine These vom bereits eingetretenen „Ende der Geschichte“ berühmt wurde – einer These, die in einer von Pandemie und Krieg geprägten Gegenwart zunächst fragwürdiger denn je erscheint.