„Die Gedanken der herrschenden Klasse sind in jeder Epoche die herrschenden Gedanken“. Dieser Satz präsentiert die sogenannte Ideologiekritik in ihrer klassischen Gestalt. Er stammt aus der Mitte des 19. Jahrhunderts, aus der Feder von Karl Marx und Friedrich Engels („Die deutsche Ideologie“). Kennzeichnend hierfür ist erstens die Rückführung der Herkunft von Denkformen („Bewusstsein“) auf ein soziales „Sein“: die (materiellen) Lebensbedingungen von Menschen. Ideologiekritik ist insofern die Kritik an einer Denkform ohne gesellschaftliche Bodenhaftung. Sie ist Kritik am (philosophischen) Idealismus. Bei Ideologiekritik handelt es sich, zweitens, um eine Relativierung von Denkformen. Sie besteht darin, aufzuzeigen, dass es sich bei den sozialen Trägern von Denkformen stets um partikulare Gruppen („Klassen“) in der Gesellschaft handelt, denen es in einem Kampf um Gedankenhoheit gelingt (oder eben nicht gelingt), ihre eigenen Gedanken zu verallgemeinern. Ideologiekritik ist insofern die Kritik an der Herrschaft von sozialen Gruppen durch deren Ideen. Drittens handelt es sich bei Ideologiekritik um das Offenlegen von (materiellen) Interessen, die stillschweigend - d.h. von ihren sozialen Trägern unbemerkt - in Ideen eingesickert sind („Ideologie“). Die Kritik der Ideologie geht über die Kritik an der absichtsvollen Täuschung und der strategischen Übervorteilung der einen durch die anderen hinaus. Sie ist Kritik gerade auch an einem subjektiv als aufrichtig erlebten, von der Notwendigkeit der jeweils gehegten Gedanken zutiefst überzeugten Bewusstseins, das aber unaufgeklärt ist sowohl über seine gesellschaftliche Herkunft, als auch über die gesellschaftlichen (Neben-)Folgen seiner Absichten. Ideologiekritik ist insofern Kritik an einem halbierten und insofern „falschen Bewusstein“. Viertens schließlich ist Ideologiekritik nicht nur eine Kritik an den Denkformen von bestimmten sozialen Gruppen in der Gesellschaft. Sie zielt vielmehr auf den gesellschaftlichen Rahmen ab, innerhalb dessen sich die Verteilung von Lebensbedingungen und Denkformen abspielt. Ideologiekritik ist auch Kritik an der Struktur der Gesamtgesellschaft.

Im Seminar wollen wir uns im ersten Teil des Seminars in systematischer Absicht die Tradition der Ideologiekritik vor Augen führen. Im zweiten Teil werden wir uns, ebenfalls in systematischer Absicht, ansehen, durch welche Argumente die Soziologie des Wissens insbesondere in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts sich von ihrem historischen Vorläufer, der Ideologiekritik (verstanden als Philosophiekritik, Herrschaftskritik, Bewusstseinskritik und Gesellschaftskritik) wissenschaftlich emanzipiert hat. Im dritten Teil des Seminars werden wir dann ein konkretes Beispiel heranziehen, um daran gemeinsam die Differenz zwischen ideologiekritischen und wissenssoziologischen Positionen durchzuspielen.


Literatur:

Jan Weyand, Die Wissenssoziologie und das Problem der Ideologie. In: H. Beyer & A. Schauer (2021), Die Rückkehr der Ideologie. Zur Gegenwart eines Schlüsselbegriffs, Frankfurt a.M. u. New York. Campus-Verlag, S. 61-84


Bemerkung:

Das Seminar findet digital statt, voraussichtlich im Wechsel synchroner online-Präsenz mit asynchronen Aufgabenbewältigungen.

Eine Woche vor Veranstaltungsbeginn finden Sie im Moodle-Kurs der Veranstaltung die Zugangsdaten zum zoom-Treffen.