Unter Sekten versteht man heute allgemein Gemeinschaften mit einem (charismatischen, aber autoritären) Führer, einem rettenden Konzept (sei es religiös, therapeutisch oder politisch), einer ausgeprägten Machtstruktur und Kontrolle der Mitglieder, starkem Gruppendruck, deutlichem Feindbild und elitärem bzw. intolerantem Selbstbewusstsein. Befasst man sich unter diesen sozialethischen Gesichtspunkten mit sektenartigen religiösen Gruppierungen, ist man gezwungen, konsequenterweise auch jene innerkirchlichen Gemeinschaften in den Blick zu nehmen, die unter psychologischen und sozialen Gesichtspunkten ebenfalls als äußerst problematisch charakterisiert werden müssen.

Die Vorlesung ist eine Fortsetzung einer Lehrveranstaltung des Sommersemesters 2021 zur Gesamtproblematik, kann aber unabhängig und erstmalig besucht werden, da die Grundlagen der wissenschaftlichen Sektenforschung noch einmal explizit dargelegt werden – und sehr bekannte Sekten, mit denen Lehrerinnen und Lehrer in ihrer schulischen Arbeit konfrontiert werden könnten, wie zum Beispiel Scientology oder die Zeugen Jehovas, (noch einmal) behandelt werden.

Freilich soll der Fokus in diesem Wintersemester zum einen auf sektenartige Freikirchen im evangelikalen Bereich – vor allem aber auf innerkatholische Sekten gelegt werden. Zu nennen sind hier vor allem das sog. Opus Dei des José Escriba alias Josemaría Escrivá (welches am 6. Mai 2014 von Papst Franziskus als „Sekte“ bezeichnet wurde, freilich bis jetzt ohne wesentliche Konsequenzen), das Opus Angelorum (Engelwerk), die Legionäre Christi, das Neokatechumenat, „Das Werk“, die Communauté Saint Jean, die Internationale Arche, Comunione e Liberatione (CL) bzw. Memores Domini, Sodalicium Christianae Vitae SCV, die Franziskaner der Immaculata, Schönstatt, die „Herolde des Evangeliums“, das Institut des fleischgewordenen Wortes IVE, die Servi Jesu et Mariae SJM, die Integrierte Gemeinde KIG – und noch eine Reihe anderer sog. „charismatischer Bewegungen“, die unter den Päpsten Johannes Paul II. und Benedikt XVI. höchste Protektion und Schutz genossen. Bei nahezu allen diesen Gruppierungen kam es nicht nur zu geistlichem, sondern auch zu sexuellem Missbrauch, zum Teil durch die Gründer selbst. So haben die Legionäre Christi den sexuellen Missbrauch von 175 Minderjährigen eingeräumt (die Dunkelziffer dürfte sehr viel höher liegen); mindestens 60 der Kinder und Jugendlichen wurden allein von dem Gründerpriester Marcial Maciel Degollado vergewaltigt.

Zwar stellt sexueller Missbrauch durch Kleriker und die Vertuschung dieser weltweiten Verbrechen die „DNA der katholischen Kirche“ dar, wie Bischof Heiner Wilmer das formulierte. Freilich wird man sagen müssen, dass die sog. Geistlichen Gemeinschaften bei dieser Vertuschung noch rücksichtsloser agieren als katholische Diözesen und Orden. Zu Recht schreibt der Berliner Theologe und Journalist Christian Modehn über die jahrelange Vertuschung sexueller Verbrechen durch Kleriker in Köln: „Das große Desaster der Kirchenführung im Erzbistums Köln ist eng verbunden mit dem Opus Dei.“

Die Vorlesung wird sich auch mit der – mit bischöflichem Segen – international tätigen Gesellschaft zum Schutz von Tradition, Familie und Privateigentum (Gründer: Plinio Correa de Oliveira) befassen, einer „rechtsextremen Sekte“ (so die Historikerin und Extremismus-Expertin Karin Priester), die von reaktionären katholischen „Adelsclans“ gelenkt wird und personell mit rechtsextremistischen Parteien – in Deutschland konkret mit der AfD – vernetzt ist.

Seit längerem kann man zudem mit Sorge beobachten, dass die Kirchenleitung – um nicht auch noch die „besonders Frommen“ zu verlieren – abergläubische Phänomene duldet und fördert, die beim besten Willen nicht mehr unter den Begriff „Volksfrömmigkeit“ subsummiert werden können. Papst Johannes Paul II. war von solchen aftermystischen Dingen (Fatima, die „Visionen“ der Faustyna Kowalska, den „stigmatisierten“ Pater Pio) stark beeinflusst. So geschieht von Seiten Roms (nahezu) nichts gegen den obskuren „Wallfahrtsort“ Medjugorje (mit seinen bislang rund 50.000 (!) „Marienerscheinungen“ seit 1981), obgleich feststeht, dass die dortigen Vorgänge auf einem Betrug des kroatischen Franziskanerordens basieren und die Camorra daran Abermillionen verdient. In Deutschland wurden die ominösen „Marienerscheinungsorte“ Heroldsbach und Marienfried (bei Ulm), gegen die das kirchliche Wächteramt nach dem Zweiten Weltkrieg zu Recht mit allen zu Gebote stehenden Mitteln (Exkommunikationen, Interdikte) vorgegangen war, offiziell – unter Verwendung erheblicher Kirchensteuermittel – als „Gebetsstätten“ errichtet, wobei die eher bildungsfernen PilgerInnen dieses nicht von einer kirchlichen Anerkennung der dortigen Phantome unterscheiden können. Marienfried hat dabei einen extrem antisemitischen Hintergrund.

Lang ist die Liste von (Wunder)-Heilern und Exorzisten, die mit ausdrücklicher Erlaubnis katholischer Bischöfe durch die Lande ziehen: Alan Ames, P. Jean-Baptiste Bashobora, P. Bernhard Vosicky, P. James Manjackal, Fr. Corsie Legaspi usw. Auch mit diesem „katholischen Untergrund“, der studierten Theologen eher unbekannt ist, wird die Vorlesung sich befassen (müssen).