In weiten Teilen der Sozialwissenschaften galt die gesellschaftspolitische Kategorie der 'Klasse' in ihrem umfassenden Selbstanspruch lange Zeit als unbrauchbar. Lebensstilbezogene Ansätze der Individualisierung und Pluralisierung degradierten klassentheoretische Ansätze zu einem Nischendasein in der sozialen Ungleichheitsforschung. Mit dem Revival der Kapitalismuskritik im Zuge multipler Krisendynamiken und zunehmender vertikaler Ungleichheiten der letzten Jahrzehnte erfuhren klassentheoretische Debatten und Analysen ein zögerliches Comeback. Zuletzt schien Klasse vor allem aufgrund der Diskussion um klassistische Diskriminierung in aller Munde zu sein. Im Gegensatz zu Klassismus bietet die Kategorie der 'Klasse' allerdings Erklärungsansätze für eine Vielzahl gesellschaftlicher Dynamiken und Konflikte.

Soziale Klassen bezeichnen im Allgemeinen soziale Großgruppen, die sich nach ihrer Stellung in der Arbeitsteilung, ihren Lebenslagen und ihren Handlungspraxen differenzieren und z. T. konflikthaft gegenüberstehen. Die Bearbeitung antagonistischer Interessen, Größe und Struktur der Klassen, ihr reales Verhältnis sowie ihre politische wie soziale Formierung und die Herausbildung von (Klassen-)Bewusstsein sind Gegenstand der Klassenanalyse. Klasse ist eine relationale Kategorie, die gruppenspezifische Zusammenhänge zwischen ökonomischen, politischen und kulturellen Sphären ins Zentrum der Analyse rückt. Jedoch verbleiben Klassentheorien nicht rein deskriptiv, sondern benennen im Unterschied zu Schichtungsmodellen Kausalmechanismen, die das ‚Glück der Starken‘ mit ‚der Not der Schwachen‘ verbinden sowie die diesen Mechanismen zugrundeliegenden Herrschafts- und Ausbeutungsverhältnisse.

Das Seminar möchte in verschiedene Ansätze und Entwicklungen der Klassentheorie einführen und aktuelle Problemstellungen der klassentheoretischen Debatte einfangen. Ein besonderer Fokus liegt auf dem Zusammenhang von Klassen- und Machtverhältnissen sowie der Rolle des Staates in Klassengesellschaften. Wir erarbeiten die klassentheoretischen Grundlagen der Klassiker (u. a. Marx, Weber) und schauen auf die Weiterentwicklungen in der Klassenanalyse in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts (u. a. Thompson, Hall). Abschließend diskutieren wir Themenfelder und Herausforderungen einer zeitgenössischen Klassentheorie. Diese können sich u. a. auf die Intersektion verschiedener Herrschafts- und Ausbeutungsverhältnisse und damit verbundener Diskriminierungsformen (u. a. Klasse, Geschlecht, Race), auf die Wechselwirkungen von Klassen- und Naturverhältnissen, auf das Zusammenspiel zwischen nationalen Gesellschaften und globalen Klassenverhältnissen, auf die Struktur der herrschenden Klassen oder auf die starke Fragmentierung zeitgenössischer Arbeits- und Produktionsverhältnisse und der damit verbundenen Differenzierung und Heterogenität der Klassenstruktur beziehen. Die konkreten Untersuchungsfelder im letzten Teil werden gemeinsam mit den Studierenden ausgewählt.

 

Marx, Karl/Engels, Friedrich (1971 [1890]): Manifest der kommunistischen Partei. In: Marx Engels-Werke, Band 4, Berlin: Dietz Verlag, S. 461-493.

 

Marx, Karl (1961 [1859]): Zur Kritik der Politischen Ökonomie. Vorwort. In: Marx-Engels-Werke, Band 13, Berlin: Dietz Verlag.

 

Weber, Max (2009): Stände und Klassen. In: Solga, Heike et al. (Hrsg.) (2009): Soziale Ungleichheit. Klassische Texte zur Sozialstrukturanalyse. Frankfurt/New York: Campus, S. 127- 132.