Was ist damit gemeint und was muss man darunter verstehen, wenn die Soziologie dem Wortsinn nach die »Lehre von der Gesellschaft« ist? Betreibt und studiert man Soziologie, ist man mehr als in anderen Fächern mit dem Problem konfrontiert, den genauen Gegenstandsbereich des eigenen Faches zu bestimmen. Um über »die Gesellschaft« zu forschen, bedarf es daher immer auch theoretischer Grundannahmen darüber, was der Gegenstandsbereich der Soziologie ist (in Abgrenzung etwa zu anderen Fächern) und was die Soziologie erklären soll oder kann. Diese Fragen verweisen auf die Notwendigkeit der Auseinandersetzung mit soziologischer Theorie.

Einen möglichen Zugang zu den verschiedenen Ebenen und Grundpositionen soziologischer Theoriebildung stellen fundamentale Kontroversen bzw. Konfliktlinien dar, die die Soziologie wiederkehrend beschäftigen. Jene Kontroversen stecken auf markante Weise die Problemdimensionen des Fachs ab. Zugleich zeigen sie in exemplarischer Form sowohl die verschiedenen konkurrierenden Paradigmen als auch die verbindenden Elemente der Soziologie. Anstatt also einzelne Autoren vertiefend zu lesen, soll im Seminar ein spezifischer Problemkreis gesellschaftlicher Wirklichkeitsdeutung erschlossen und diskutiert werden.

Im Seminar „Norm und Abweichung” bilden diesen Gegenstand soziale Normen, d.h. die Spielregeln des Sozialen, die die sozialen Interaktionen und gesellschaftlichen Verhältnisse regeln. Sie gelten im Fach nicht nur seit jeher als zentraler Untersuchungsgegenstand; dass die Frage nach den Spielregeln des Sozialen vielmehr aktueller denn je ist, verdeutlichen die folgenden Beispiele: Einflussreiche Forscher:innen im Bereich der Künstlichen Intelligenz (KI) fordern eine Entwicklungspause für KI-Systeme, damit die Gesellschaft erst einmal Spielregeln für ihren Gebrauch festlegen kann; der Ex-Präsident eines der mächtigsten Länder der Welt verstößt gegen alle möglichen sozialen und politischen Speiregeln, und wird doch erneut Präsidentschaftskandidat; das größte Land der Erde verstößt willkürlich gegen die Spielregeln des Völkerrechts und greift ein Nachbarland an.

Worum genau handelt es sich vor diesem Hintergrund bei sozialen Spielregeln, und wie verhalten sie sich zur Abweichung von der Norm? Sind Normen Regeln, und wenn ja: in welchem Sinne? Üben sie Zwang aus und steuern Handlungen dementsprechend ganzheitlich? Haben sie eher orientierenden Charakter und formen Verhalten in gelockerter Weise? Oder handelt es sich sogar bloß um Erwartungen, von denen die anderen auch dann noch erwarten, dass wir sie auch haben, wenn sie selbst davon abweichen? Wenn Normen Regeln sind, (wie) unterscheiden sie sich dann von den Algorithmen irgendwelcher Software-Programme? Wie verhalten sich Normen zu Normalität? Und in welcher Beziehung stehen sie zu den in Sonntagsreden vielbeschworenen Werten?

Im Seminar werden wir uns mit einigen klassischen und neueren Positionen zum Verhältnis von Norm und Abweichung auseinandersetzen, um zunächst die formulierten Grundsatzfragen zu behandeln. Von dort ausgehend, werden dann einige der oben angedeuteten aktuelleren Probleme der Gegenwartsgesellschaft (Normen und Technik, Digitalisierung, KI; populistische Normbrüche) mithilfe des angeeigneten Instrumentariums in der Seminargruppe gemeinsam analysiert.